Taouent Nordafrika
Auf
der ganzen Welt gibt es Orte, die mit der Zeit vergessen gehen. Die
Menschen der Gegenwart nehmen zwar die alten Steine wahr,
interessieren sich aber wenig um deren Vergangenheit. Da braucht es
jemanden, der sich hinkniet und sich fragt, was war hier? Wer lebte
hier? Wer hat hier gehaust und gelebt? Wie kam es zum Untergang
dieses damals sicher wichtigen Stützpunktes
Internet
bietet dabei eine grosse Hilfe, aber der Suchende merkt bald, dass es
mit vergangenen Grössen etwas schwierig wird, so im Falle der Ruinen
der Lalla Ghazwana über dem Hafen der heutigen algerischen Stadt
Ghazaouet.
Ghazaouet
liegt an der Mittelmeerküste in der Nähe zur marokkanischen Grenze
und ist vom spanischen Almeria über das Mittelmeer rund 200
Kilometer entfernt. Jeweils Dienstags verbindet eine spanische Fähre
beide Städte miteinander und benötigt für die Überfahrt rund 8
Stunden. Wenn man mit der Fähre langsam in den Hafen gleitet
überraschen die steilen Felsklippen links und rechts vom
Hafenbecken. Bei der Einfahrt wartet ein natürliches Wahrzeichen,
ein in zwei ungleiche Teile gespaltener Felsen auf die Schiffe. Schon
früher zeigten diese Felsen, genannt die zwei Brüder, den
Schiffsfahrern den richtigen Weg zum Hafen. Einmal im Hafenbecken
muss die Fähre sich um die eigene Achse wenden, um am vorgesehenen
Steg anzulegen. Von der Reling sehe ich einen mittleren Hafen mit
zwei Frachtschiffen, die gelöscht werden. Viele Fischerboote in
verschiedenen Grössen liegen im Hafenbecken. Bei ein paar wenigen
herrscht noch emsiges Treiben nach dem nächtlichen Fischfang. Der
Fischmarkt ist bereits geschlossen, für die Einwohner stehen ein
paar Marktstände auf der breiten befahrbaren Aufschüttung, welche
den Hafen vor dem Meer schützt. Hinter den Hafengebäuden liegt die
Hauptstrasse, welche hoch in die Neustadt führt. In der Mitte ist
ein freier Platz mit der christlichen Kirche, welche heute als
Bibliothek Verwendung findet. Parallel zur Hafenstrasse führen zwei
weitere Strassen von links nach rechts. Die mittlere mit Schatten
spenden Bäumen bepflanzt, die hintere Häuserreihe grenzt an eine
Felswand. Wo diese abflacht, führt die alte Hauptstrasse durch ein
altes Stadttor nach Nedroma und weiter bis nach Tlemcen. Der Fluss
Tleta schuf mit der Zeit ein breites Flussbett. Hier wurde in der
französischen Kolonialzeit ein Bahnhof gebaut, der Güter vom Hafen
ins Landesinnere führte und Erze, Wein und Getreide zum Hafen
transportierte, welche ins Heimatland verschifft wurden. Heute führt
der Fluss kein Wasser und wird als Müllhalde genutzt. So schmutzig
wie das Flussbett ist auch die Stadt und deren Umgebung. Plastik
fliegt und liegt überall herum. Der Sand von den Stränden liegt in
der Luft und findet sich in allen Ritzen. Die Häuser aus dem 19.
Jahrhundert sind teilweise verfallen, teilweise noch bewohnt. Sie
scheinen alle ungepflegt und das letzte Mal einen Farbpinsel haben
sie wohl vor Jahrzehnten gesehen. Die alten Cafés haben wohl in der
Kolonialzeit bessere Zeiten erlebt. Die zahlreichen Geschäfte mit
Kleidern, Lebensmitteln, Apotheken und Imbissbuden laden zu einem
Spaziergang ein. Die Strassen münden in Richtung Neustadt auf einen
Platz mit der alten Hauptmoschee und einem Strassencafé mit
Terrasse, wo sich die männliche Jugend allabendlich
trifft.
Eigentlich ein Ort, den man vielleicht für eine Stunde
besucht und dann verlässt und erst wieder bei der Rückreise auf
direkter Fahrt zum Hafen für die Ausreise streift. Doch irgendetwas, ein heimlicher Zauber, lässt mich länger in der Stadt
weilen. Sicher sind es die netten und überaus freundlichen
Einwohner, die Fischrestaurants mit täglich fangfrischem Fisch, die
erwähnten Gebäude aus der Kolonialzeit, die nach Fotos schreien und hoch über der Stadt gelegen eine alte Festung, deren Überreste
zerfallen und traurig auf die neu gebaute Einfallstrasse schauen und
sicher von glorreicheren Zeiten träumen.
Die
Osmanen nannten die Stadt Djemaa Ghazaoued, was so viel wie der Treffpunkt der Piraten bedeutet. Die
Franzosen benannten Sie nach einem ihrer militärischen Führer,
Nemours. Nach der Unabhängigkeit im Jahre 1962 wurde die Stadt zu
Ghazaoued. Der türkische Piratenort befand sich aber nicht am Hafen
in der Ebene, sondern oben auf dem Felsen östlich vom Hafen gelegen,
wo heute eine militärische Einrichtung den Küstenabschnitt bewacht
und das geschehen im Hafen überwacht. Hinter den vereinzelten
Fischerhütten erstreckten sich Obst- und Gemüsegärten. Auf den
Hügel Lalla Ghazwana führt eine steile, kurvenreiche Strasse. Bei
einer Abzweigung stehe ich unter dem südlichen Wachturm, der am
besten erhaltene Teil der damaligen Festung. Festung ist das falsche
Wort, die damalige Stadt Taouent, welche zur zeit des Kalifats von
Cordoba seinen Höhepunkt erreichte, war eine Stadt, welche die
gesamte Ebene des rund 130 Meter über der heutigen Stadt liegenden
Hochplateau einnahm. Der Turm, unter dem ich stand bildete dabei die
südliche Grenze. Vom Turm Richtung Osten führte eine Mauer bis zu
den Klippen, die in rund 80 Metern steil ins Mittelmeer abfallen.
Richtung Westen sieht man noch deutlich die damalige Stützmauer, auf
der wohl die eigentliche Schutzmauer mit Wachtürmen stand. Die Mauer
führte bis nach Westen, wo heute die militärische Anlage steht und
schützte somit die Stadt gegen Süden. Der gesamte nördliche
Bereich war durch die steil abfallenden Klippen gegen ungebetene
Gäste geschützt. Der
Überlieferung zufolge gab es zwei Tore, die den Zugang zur Siedlung
ermöglichten. Eines von ihnen befand sich westlich der Umfriedung
neben dem Mausoleum von Sidi Moussa. Sidi Moussa war ein frommer
Mann, der in der Nähe des Tores der Umfriedung lebte, wo er später
auch begraben wurde. Das zweite Tor befand sich im Osten, in der Nähe
zur Festung.
Die
Siedlung nahm die gesamte Hochebene von rund sieben Hektar ein. Der
Besucher kann noch heute vereinzelte Grundrisse der zahlreichen
quadratischen Häuser zwischen den Gräsern und Gestrüppen finden.
Hier standen auch Silos für das Getreide. Es finden sich viele
Höhlen unterschiedlicher Grösse. Sicher waren einige von ihnen
bewohnt, andere dienten als Unterstand für Tiere, die mit Blick aufs
Meer sicher als Versteck und Stützpunkt zur Überwachung der Küste.
Sehen und nicht gesehen werden. Die Siedlung hatte zwei Moscheen.
Die
interessantesten Ruinen sind zweifellos die bis heute noch
bestehenden Mauern und Türme der Burg, die ein Viereck von rund 3000
Quadratmeter bildete und an der strategischen Position östlich des
Plateaus liegt. Der noch bestehende südliche Teil der Festung wird
von drei Wachtürmen flankiert, welche an der Aussenseite der
Ringmauer standen. Zwei davon sind Ecktürme. Die Türme stehen in
gleichem Abstand von einander. Der östliche Eckturm ist breiter als
die beiden andern. Seine Basis besteht aus zwei rechteckigen,
voneinander getrennten Räumen, die von aussen nicht zugänglich
sind. Darüber befanden sich zwei übereinander liegenden Kammern aus
gemauertem Gewölbe.
Als
die Franzosen in die Gegend kamen, wurden die Einwohner aus der
Siedlung vertrieben und später die beiden Moscheen zerstört. Sie
begannen mit dem Bau der militärischen Anlage, die bis heute etwas
modernisiert besteht.
Östlich vom mittleren Turm befand sich eine
der Zisternen. Sie wurde über einen Wasserkanal gefüllt. Diesen
findet man, wenn man der Abzweigung unterhalb des südlichen Turm
folgt und den Berg hochsteigt. Noch heute verraten die üppige
Vegetation entlang des Kanals seine Existenz, welche weiter östlich
abrupt endet. Hier sind wiederum viele Sträucher, umgeben von Pinien
zu finden. Gab es hier wohl eine Quelle?
Nach
den Arabern kamen die Spanier. Ob Sie sich in Taouent niedergelassen
haben, ist unwahrscheinlich. In den geschichtlichen Unterlagen dieser
Zeit wird von Oran und Honain gesprochen, die beide weiter östlich
liegen. Somit war die Siedlung sehr wahrscheinlich bereits zu dieser
Zeit ein Piratennest der Berber, welche vom durch die Natur
geschützten Taouent die spanischen Flotten auf dem Weg nach Oran
angriffen.
Die Siedlung ist heute vergessen, sogar bei den
Einheimischen. Bei meinem Besuch war ich der einzige, der auf dem
Plateau herumstreifte. Ein Militär kam mich besuchen, um zu
erklären, dass ich keine Fotos von der militärischen Anlage machen
dürfe, was mir schon vorher bewusst war und ich ihm gerne
bestätigte.
Im Internet fand ich nicht viele Informationen,
nicht einmal über die glorreiche Zeit der Kalifen aus Cordoba. Für
die spanischen Geschichtsschreiber scheint das Mittelmeer die Grenze
gewesen zu sein und die damalige Welt mit Al Mariyat Bayyana
(heutiges Almeria) zu enden. Dabei war das Kalifat in der Blütezeit
der Fatimiden auf afrikanischem Boden flächenmässig grösser als
auf der Iberischen Halbinsel. Hier herrschten die Sultane der Touent
und Ad Fraties. Die Handels- und Pilgerwege führten entlang der
Küste von West nach Ost bis nach Mekka. Die Handelsroute mit dem
schwarzen Kontinent führte über Tlemcen, rund 80 Kilometer von der
Küste entfernt Richtung Sahara. Muslimische Dynastien entstanden im
heutigen Mauretanien und Senegal und deren Eroberungszügen führte
durch Nordafrika nach Europa. Die Ruinen von Taouent haben viel
gesehen und viel erlebt. Heute kümmert sich keiner um sie und der
südliche Wachturm träumt weiter vor sich hin.
Quellennachweis: https://www.pecheurs-de-nemours-ghazaouet.com