Spanische Sonne

09.10.2022

Spanische Einflüsse, ohne dass ich spanisches Blut oder spanische Gene habe. Ich kenne meinen Stammbaum väterlicher und mütterliche Seite bis hin zurück ins 18. Jahrhundert. Da gab es immer wieder irgend ein für damalige Verhältnisse auffallendes Geschöpf, aber eher war Inzucht angesagt, als dass einer meiner Vorfahren den Weg nach Spanien gefunden hätte.

Ich habe den Weg nach Spanien damals gefunden und das Bleiben gesucht. Eigentlich sollten es drei Wochen Urlaub werden, daraus wurde ein Leben, oder, wenigstens ein grosser Teil meines Lebens. 20 Jahre lassen sich schnell sagen, im Rückblick schnell verleben, aber zwanzig Jahre prägen. Mein mitteleuropäisches germanisches Sein wurde während zwanzig Jahren vom lateinischen südspanischen geprägten Leben beeinflusst.
Dazu gehört Offenheit, nicht nur von meiner Seite, sondern auch von Seiten der Einwohner. Offenheit gegenüber Neuem, wie Fische mit Köpfen und offenen Augen auf dem Teller. Offenheit gegenüber Fragen, gefragt und ausgefragt zu werden. Offenheit einer neuen Sprache gegenüber und die Bereitschaft sie zu erlernen. Gelegenheit sie anzuwenden sind unzählbar, in jeder Bar, Café, auf der Strasse, im Park und Bus. Offenheit gegenüber der Kultur, der heutigen und der vergangenen, um das Heute zu verstehen. Offenheit gegenüber der Geschichte, der Politik, dem Fussball und den Vorlieben für Bier, Wein und Tapas.

Der erste Kontakt mit einer noch fremden Kultur beginnt in seinen Bars und Restaurants, also mit den Trink- und Essgewohnheiten. Südspanien, bekannt für seine Tapas-Bars. Ein Glas Bier, ein Glas Wein und dazu einen kleinen bis grossen Happen zum Essen. Regionale Küche bevorzugt. Tortilla im Sommer, Puchero (Eintopf) im Winter. Patatas mit Ei, Fleisch in Sosse, Fisch, Muscheln und Russischer Salat. Schnell lernt der noch Fremde, dass es zu jedem Getränk eine neue, grössere Tapa gibt. In spezialisierten Bars hat man somit nach vier Gläsern nicht nur genug getrunken, sondern auch genügend gegessen.

Gleichzeitig mit dem Besuch der Tapas-Bars steigt der Kontakt mit der Sprache. Sprechende Mitstreiter an der Bar, an den Tischen, stehend zwischen den Bänken. Diskussionen im ständig laufenden Fernseher, Musik aus dem Radio. Entweder lässt du dieses Gewirr von Stimmen, Musik und Gesang auf dich einwirken oder lässt dich berieseln, konzentrierst dich nur auf die Musik von 091, Radio Futura, Duncan Dhu, Gabinete Caligari, Danza Invisible und lernst dabei das eine und andere Wort auf Spanisch. Später wird es etwas komplizierter und poetischer mit Aute, Bosé, Bunbury, Rosana, Comesana und du geniesst die 15 Tage und 500 Nächte mit Joaquin Sabina.

In den ruhigeren Stunden lohnt es sich zu lesen. Die spanische Literatur ist sehr vielseitig und greift auf grosse bekannte Schriftsteller der Vergangenheit zurück. Da nicht nur in Spanien spanisch gesprochen wird, breitet sich für den Lesenden ein riesiges Angebot vor ihm aus mit Schriftstellern auch aus den verschiedenen südamerikanischen Ländern. Es gibt tausende von Büchern, die einen interessierten Leser suchen. Es wird schwierig eine Liste zu erstellen, vom Modernismus über die Generationen 1898, 1914, 1927 zu den Autoren nach dem Bürgerkrieg, der Generation der 1936, Medio Siglo bis 1968 bis zur heutigen Generation, der Literatur postfrankismus. Ramon Maria del Valle-Inclan, Angel Ganivet, Jose Ortega y Gasset, Federico Garcia Lorca, Juan Goytisolo, Antonio Gala, Camilo Jose Cela, um zum Schluss doch ein paar Autoren zu nennen.

Die Geschichte Spaniens ist so vielseitig wie die Musik und die Literatur. Vor allem in Andalusien wird man von der Geschichte auf Schritt und Tritt verfolgt und ruht bei einem Café im Schatten von Stadtmauern, Palästen, Burgen und Wachtürmen aus einer anderen Zeit, aus der Zeit, wo Al-Andalus zu einem riesigen vom Islam geprägten Reich gehörte.
Das moderne Leben schreitet neben den Monumenten mit grossen Schritten daher. Fahrzeuge parken vor Toren und Türen, welche zu versteckten Palästen Einlass gewähren. Nicht nur ältere und gebildete Menschen können aus der Zeit, welche im Jahre 1491 sein Ende fand, erzählen, als ob sie selber dabei gewesen wären, nein, auch die Jugend kennt sich in der Geschichte der eigenen Stadt ziemlich gut aus. Die Jugend ist auch in der aktuellen Politik sehr aktiv und kritisch.

Nun sitze ich im kühlen Mitteleuropa, warte, dass die Sonne gegen die Mittagszeit ihren Weg durch den Nebel findet und lebe mein Doppelleben zwischen Nord und Süd. Zwischen grau und bunt. Zwischen Leben und Lebensfreude. Die spanische Sonne in mir gibt mir das Vitamin D, um auch unseren Winter zu überleben, nein zu leben.