Siddhartha
Über
vierzig Jahre lang habe ich die indische Dichtung von Hermann Hesse als
Taschenbuch des Suhrkamp-Verlags mit mir herumgetragen. Vor vierzig
Jahren las ich zum ersten Mal die Medizin, die nach Henry Miller
wirksamer ist als das Neue Testament. In den letzten 40 Jahren habe
ich versucht, mein Wissen zu vermehren.
Das Wissen ist
überall, das Wissen ist Atman, das Wissen ist in mir und in dir und
in jedem Wesen. Und so beginne ich zu glauben: dies Wissen hat keinen
ärgeren Feind als das Wissenwollen, als das Lernen.
In den letzten 40 Jahren habe ich vergessen, was ich gelesen hatte. Aber der Name Siddhartha blieb in mir, lebte weiter in mir und begleitete mich auf meiner eigenen Suche. Das Buch war in meinem Gepäck von der Schweiz nach Spanien, von Spanien nach Marokko und wieder zurück in die Schweiz. Das Buch begleitete mich auf meinem Abstecher nach Frankfurt. Das Buch fand seinen Platz unter den ausgewählten Büchern, die mit mir auf die Reise gingen. Den Inhalt habe ich vergessen, aber der Name Siddhartha hat mein Herz, meine Seele und mein Denken immer wieder berührt. Im Mai 1984 gelesen, finde ich keine Randbemerkungen, keine unterstrichenen Zeilen und Abschnitte wie in anderen Büchern aus dieser Zeit. Warum hat sich die Poesie das Recht genommen, ein Teil von mir zu sein?
Vielleicht, weil ich schon damals das ganze Buch hätte unterstreichen sollen, jedes Kapitel, jede Seite, jeden Abschnitt, jeden Satz, jedes Wort, ja jeden Buchstaben! Ich habe Siddhartha damals nicht nur gelesen, die Botschaft ist in mir angekommen und hat mich in meinem Unterbewusstsein begleitet. Wenn ich heute die Dichtung, die einzelnen Kapitel lese, verstehe ich, dass auch ich es auf meine Weise erlebt und gelebt habe. Ich schritt wieder aus, begann rasch und ungeduldig zu gehen, nicht mehr nach Hause, nicht mehr zurück.
Meine
Eltern wollten mich nicht gehen lassen, wollten nicht, dass ich einen
anderen Lebensweg einschlage als sie. Govinda hat mich mehrfach
begleitet, so wie in der Poesie Govinda nie derselbe ist, sondern nur
denselben Namen trägt. Kamala war auch für mich das menschliche
Ziel der Sexualität. Kama, der Gott der Liebe, hat viele Gesichter.
Ich wurde als Menschenkind geboren und alle meine Reisen führten
mich immer wieder weg von den Flüssen und Bergen zurück in die
Stadt. Viele Male habe ich versucht, ein gutes Menschenkind zu sein,
und jedes Mal bin ich gescheitert. Nie hatte ich den Mut, alles
hinter mir zu lassen, mich an den Fluss zu setzen und nur seiner
Stimme zu lauschen. Immer wieder ging ich zurück, versuchte ein
erfolgreicher Kamaswami zu sein. Ich versuchte zu lieben wie die
Kinder, denn das ist ihr Geheimnis.
Es ist gut alles selber zu
kosten, was man zu wissen nötig hat. Dass Weltlust und Reichtum
nicht vom Guten sind, habe ich schon als Kind gelernt. Gewusst habe
ich es lange, erlebt habe ich es erst jetzt. Und nun weiss ich es,
weiss es nicht nur mit dem Gedächtnis, sondern mit meinen Augen, mit
meinem Herzen, mit meinem Magen. Wohl mir, dass ich es weiss!
Immer wieder musste ich in die Welt zurückkehren, mich an die Lust und die Macht, an die Frauen und das Geld verlieren. Ich war Kaufmann, Spieler, Trinker und Habgieriger. Ich ertrug die Leere, die Sinnlosigkeit, das Öde, verlorene Leben bis zur bitteren Verzweiflung. Vergänglich waren diese Gestalten, sie alle mussten sterben, damit der Phönix in mir wieder ein Kind und voller Freude werden konnte.
Vier Söhne und eine Tochter sind mir geboren. Auf alle fünf bin ich stolz. Alle werden ihren Weg gehen, so wie es die Älteren schon getan haben und die Mittleren im Sprung ins eigene Leben stehen oder schon gesprungen sind. Auch ich werde sie nicht zurückhalten können. Ich kann ihnen zur Seite stehen mit meinen Worten und vor allem mit meinem Schweigen. Hören, was aus ihrer Seele spricht, stumm bejahen oder zweifeln an ihren Gedanken. Sicher kann ich die Hand reichen, aber auch ich suche weiter und bin noch nicht im letzten, nicht im vorletzten Kapitel meiner eigenen Dichtung angekommen. Ich habe Leben geschenkt, ich habe Leben behütet, ich freue mich über die Schritte meiner Kinder. Aber ich kann den Vorwurf nicht akzeptieren, dass mein Verhalten falsch war, dass ich nicht da war, als man mich brauchte. Eure Wege sind nicht mein Weg, auch wenn ich es mir manchmal wünsche. Wichtig ist, dass wir unsere Wege gegenseitig respektieren und versuchen zu verstehen. Ich bin stolz auf meine Kinder, auf jedes einzelne. Es treibt mir Freudentränen in die Augen, wenn ich an eurem Glück teilhaben darf. Es macht mich traurig, wenn ich eure Verzweiflung sehe, die das Leben für jeden von euch bereithält. Aber wir werden es alle schaffen, vergesst nicht, ihr habt Geschwister, ihr habt Eltern, wir haben uns.
Unerwartete und unbekannte Spuren habe ich in euch, meinen Kindern, hinterlassen. Meinen väterlichen Willen und meine väterliche Angst habe ich in eure Seelen, in eure Herzen geschrieben. Ihr werdet ein Leben lang brauchen, um meinen Text in euch zu finden, ihn zu entziffern, und ihr werdet nie sicher sein, ihn verstanden zu haben, denn mein Text hat sich längst mit euren eigenen Texten vermischt.