Schachnovelle
Wie Stefan Zweig und seine Mitreisenden auf dem Dampfer von New York nach Argentinien spiele auch ich Schach. Auch bei mir liegt die Betonung auf spielen und nicht auf Schach. Das Schachspiel hat mich zwar in meiner Jugend in der Schweiz und später in Granada, Spanien, begleitet. Mit meinem Freund Daniel spielten wir jeden Abend vor dem Ausgehen Schach. Dank der Punkte in der Tageszeitung Ideal habe ich mir meine Schachfiguren mit dem nötigen Brett zusammengesammelt. Die Schwarzen stellen die Mauren dar, die Weissen die Christen mit der Königin Elisabeth und dem König Ferdinand. Später habe ich es meinem Sohn Martin vererbt, im Wohnmobil habe ich ein kleines handliches Spiel, aber es fehlt ein weisser Bauer.
Jeder weiss, dass auch in diesem Spiel der Bauer achtmal vertreten ist, also über die einfache Mehrheit der jeweils 16 Figuren verfügt, aber wie im Leben am wenigsten zu sagen hat. Auch der König selbst ist nicht sehr beweglich. Die Dame oder der König dürfen sich einiges mehr erlauben und auch Läufer, Turm und Reiter sind dem König weit überlegen. Aber wie im richtigen Leben will der König gar nicht ins Geschehen eingreifen und lässt sich von seiner Armee beschützen. Es darf kein direkter Weg vom Gegner zum König geöffnet werden, sonst heisst es Matt und später sogar Schachmatt.
Im
Mittelpunkt der 1943 entstandenen Schachnovelle von Stefan Zweig
stehen die Romanfiguren, insbesondere das unverständliche
Aufeinanderprallen der unterschiedlichen Lebenswelten des
grobschlächtigen Fischerjungen aus der Provinz einerseits und des
adeligen Wiener Monarchisten andererseits. Die seelischen Abgründe,
die der Österreicher als Gefangener der Gestapo durchlebte, werden
ausführlich dargestellt und durch die Rahmenhandlung mit der
oberflächlichen Lebenswelt wohlhabender Schiffsreisender
konfrontiert. Obwohl die Novelle scheinbar noch in der Zeit des
Nationalsozialismus spielt und der Ich-Erzähler Österreicher ist,
wo wie Zweig, wird die Existenz des Nationalsozialismus erst in der
Erzählung eines ehemaligen Gefangenen thematisiert. Auch das
Schachspiel spielt zunächst nur die Rolle einer oberflächlichen
Unterhaltung, eines Zeitvertreibs in der Raucherlounge des Schiffes,
und erhält seine eigentliche Bedeutung erst durch die Figur des
Häftlings
Dr. B., der sich während seiner Haftzeit intensiv, fast
manisch, mit Schach beschäftigen musste.
Der
knapp hundert Seiten umfassende Roman liest sich leicht und flüssig.
Keine unnötigen Kapitel unterteilen den Roman. Ich muss das Buch nur
für meine eigenen Gedanken zur Seite legen, um mir einen Reim auf
das Gestern und Heute zu machen. Die Ausgabe, die mich seit fast 40
Jahren begleitet, habe ich am 17. März 1986 zum ersten Mal gelesen.
Nur 20 Monate später las ich sie zum zweiten Mal und erst am 28.
September 1991 zum vorletzten Mal. Und heute, im Mai 2024, zum
letzten Mal. Ich war überrascht, dass mir einige Passagen noch sehr
vertraut waren. Andere hatte ich vergessen oder mir wichtiger
vorgestellt, als sie in Wirklichkeit waren. Zum Beispiel die Stelle
mit dem quadratischen Tischtuch und den Figuren aus Brotteig. Aber
das Buch hat bis heute nichts von seinem Wert und seiner Lehre
verloren.