Lebensrückblick I

25.12.2023

Mein 30-jähriger Sohn schreibt, dass er sich nicht an seine ersten Lebensjahre erinnern kann. Ich auch nicht. Erinnerungen an die Zeit der 1960er Jahre habe ich aufgrund von Erzählungen am Familientisch und aus Fotos, die mich im Kinderwagen, als kleiner Knirps, im Sandkasten, im Bett mit Schwester und Mutter, auf dem Schlitten, am ersten Schultag, auf Wanderungen und schwimmend im See, zeigen. Daraus ergeben sich meine persönlichen Bilder meiner ersten Lebensjahre, aber keine Erinnerungen.

Um mich an Gegebenheiten und Menschen ausserhalb meiner Familie zu erinnern gibt es Google. Mit dem Namen John F. Kennedy, der 35. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika als Politiker der Demokratischen Partei von 1961 bis zu seiner Ermordung am 22. November 1963 war, verbindet mich nicht die gemeinsamen Jahre, sondern die erlernte Weltgeschichte während der kommenden Schulzeit.
Es war die Zeit des Vietnam-Krieges, der Studentenbewegung und der sexuellen Revolution. Die musikalische Revolution angeführt von den Beatles und Rolling Stones erlebte ich nebenbei, meine ältere Schwester war eher dem deutschen Schlager angetan, und erst später und in zweiter Generation. Erinnern mag ich mich an die Mondlandung der US-Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin, die von Grossmutter aber als amerikanische Hollywood-Verfilmung angesehen wurde. Die Deutsche Literatur erlebte in diesem Jahrzehnt eine zunehmende Politisierung. Der schnelle gesellschaftliche Wandel, die Proteste der Studenten, die Politik und der Kalte Krieg beeinflussten die Themen vieler literarischer Werke, die ich dann später lies, wie zum Beispiel Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Günter Grass, Max Frisch und Siegfried Lenz, um nur einige zu nennen.

In den 1970er Jahren besuchte ich bereits die Schule und lernte aus der Vergangenheit. Wir spielten auf dem Schulweg mit Karten, versteckten uns und verfolgten die Mädchen. Wie heute dauerte der Heimweg einiges länger als der morgendliche Hinweg. Zu Hause wartete die Mutter mit einem halben Apfel, etwas Schokolade auf einem Schnitten Brot. Es galt Hausaufgaben für die Schule zu machen und immer gab es etwas wo ich im Hause und Garten helfen musste. Dann die freie Zeit zum Spielen, bei schönem Wetter draussen, bei Regen und Schnee in den Gemeinschaftsräumen im Keller oder abwechslungsweise bei mir oder einem Freund zu Hause. Sobald es dunkel wurde kam die Zeit nach Hause zu gehen, Abendessen, etwas Fernsehen in schwarz/weiss, lesen und schlafen.
An mein zweites Jahrzehnt mag ich mich schon besser erinnern und Geschichten und Erlebtes entstehen nicht nur aus Erzählungen und Bildern. Es bleiben auch Namen hängen von Kollegen, Freunden und Lehrern. Teil der Weltgeschichte wurde direkt miterlebt und Politiker wie Willy Brandt vermischen sich mit Terror und Atomkraft. Deutsche Liedermacher werden kritisch und prangern die Gesellschaft an. Georg Danzer suchte die Freiheit, Georg Danzer warnte uns vor der Überwachung und für Konstantin Wecker wurde es langsam genug. Maxiröcke und Schlaghosen standen hoch im Kurs und ich wurde zum Hippie ohne dass ich, meine Eltern oder irgend jemand es wollten. Toast Hawaii war so exotisch wie die Kleidung aus Afghanistan zur Musik von Led Zeppelin.
Nachträglich werden wir die Generation X, Generation der Babyboomer genannt, davon merkten und wussten wir damals nichts und wollen auch heute nichts davon wissen. Wir verlangten Chancengleichheit, das Ende des Vietnamkriegs und den Stopp der atomaren Aufrüstung.

In den 1980er wurde ich erwachsen, zwanzig Jahre alt, Militärdienst, feste Freundin, kurze Haare, anständige Arbeit. Modernes Auto, erste Wohnung, die wilden Jahre waren vorbei. Die Mode änderte sich, getanzt wurde zu Depeche Mode, das Make-up schrill, das Leben kurios. Eingezwängt in ein Leben ohne Probleme, mit viel Geld, Pizzas bitte ohne die eine Olive und kontrollierte Freiheit. Vom Hippie zum Einheitsbürger, das kann und darf ja nicht sein. Der Ausweg führte über die Musik von David Bowie, Fleedwood Mac, Bryan Ferry und don't stop the dance. Die Haare wurden wieder länger, die Kleidung in den Tönen schwarz und weiss und die Freunde änderten sich und somit auch das private Leben, weg vom Haus, von der Sicherheit und vom Zwang, rein ins Abenteuer. Spanien, Andalusien, Granada.
Somit weitete sich auch der persönliche Blick auf eine neue Kultur auf eine Vergangenheit voller orientalischer Reize, Musik und Literatur in noch fremder Sprache mit Schriftstellern und Musiker nicht nur aus Spanien, sondern auch aus Lateinamerika. Es galt nicht nur die Literatur postfranco und der Transition zu lesen und zu verstehen, sondern auch die Generation 68 bis hin zur Literatur während des spanischen Bürgerkrieges. Fasziniert war ich von der immer noch präsenten andalusisch-maurischen Vergangenheit. Als junger Mensch und interessiert an Geschichte, Sprache, Literatur und Musik bekomme ich so viel Nahrung vorgelegt, dass ich intellektuell fast platze. Von Spanien wusste ich bis zu meinem Besuch nichts und ich durfte lernen, spüren und erfahren. Etwas, was nicht in ein paar Semester zu erreichen war, nein, es dauerte knapp 20 Jahre.

Die zweite Hälfte der 1980er Jahren waren somit die reinste Fiesta, ein freies Leben und das Jahrzehnt fand den krönenden Abschuss mit der Geburt meiner Tochter.