Lebensrückblick I
Mein 30-jähriger Sohn schreibt, dass er sich nicht an seine ersten Lebensjahre erinnern kann. Ich auch nicht. Erinnerungen an die Zeit der 1960er Jahre habe ich aufgrund von Erzählungen am Familientisch und aus Fotos, die mich im Kinderwagen, als kleiner Knirps, im Sandkasten, im Bett mit Schwester und Mutter, auf dem Schlitten, am ersten Schultag, auf Wanderungen und schwimmend im See, zeigen. Daraus ergeben sich meine persönlichen Bilder meiner ersten Lebensjahre, aber keine Erinnerungen.
Um
mich an Gegebenheiten und Menschen ausserhalb meiner Familie zu
erinnern gibt es Google. Mit dem Namen John F. Kennedy, der 35.
Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika als Politiker der
Demokratischen Partei von 1961 bis zu seiner Ermordung am 22.
November 1963 war, verbindet mich nicht die gemeinsamen Jahre,
sondern die erlernte Weltgeschichte während der kommenden Schulzeit.
Es
war die Zeit des Vietnam-Krieges, der Studentenbewegung und der
sexuellen Revolution. Die musikalische Revolution angeführt von den
Beatles und Rolling Stones erlebte ich nebenbei, meine ältere
Schwester war eher dem deutschen Schlager angetan, und erst später
und in zweiter Generation. Erinnern mag ich mich an die Mondlandung
der US-Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin, die von
Grossmutter aber als amerikanische Hollywood-Verfilmung angesehen
wurde. Die Deutsche Literatur erlebte in diesem Jahrzehnt eine
zunehmende Politisierung. Der schnelle gesellschaftliche Wandel, die
Proteste der Studenten, die Politik und der Kalte Krieg beeinflussten
die Themen vieler literarischer Werke, die ich dann später lies, wie
zum Beispiel Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Günter Grass,
Max Frisch und Siegfried Lenz, um nur einige zu nennen.
In
den 1970er Jahren besuchte ich bereits die Schule und lernte aus der
Vergangenheit. Wir spielten auf dem Schulweg mit Karten, versteckten
uns und verfolgten die Mädchen. Wie heute dauerte der Heimweg
einiges länger als der morgendliche Hinweg. Zu Hause wartete die
Mutter mit einem halben Apfel, etwas Schokolade auf einem Schnitten
Brot. Es galt Hausaufgaben für die Schule zu machen und immer gab es
etwas wo ich im Hause und Garten helfen musste. Dann die freie Zeit
zum Spielen, bei schönem Wetter draussen, bei Regen und Schnee in
den Gemeinschaftsräumen im Keller oder abwechslungsweise bei mir
oder einem Freund zu Hause. Sobald es dunkel wurde kam die Zeit nach
Hause zu gehen, Abendessen, etwas Fernsehen in schwarz/weiss, lesen
und schlafen.
An
mein zweites Jahrzehnt mag ich mich schon besser erinnern und
Geschichten und Erlebtes entstehen nicht nur aus Erzählungen und
Bildern. Es bleiben auch Namen hängen von Kollegen, Freunden und
Lehrern. Teil der Weltgeschichte wurde direkt miterlebt und Politiker
wie Willy Brandt vermischen sich mit Terror und Atomkraft. Deutsche
Liedermacher werden kritisch und prangern die Gesellschaft an. Georg
Danzer suchte die Freiheit, Georg Danzer warnte uns vor der
Überwachung und für Konstantin Wecker wurde es langsam genug.
Maxiröcke und Schlaghosen standen hoch im Kurs und ich wurde zum
Hippie ohne dass ich, meine Eltern oder irgend jemand es wollten.
Toast Hawaii war so exotisch wie die Kleidung aus Afghanistan zur
Musik von Led Zeppelin.
Nachträglich
werden wir die Generation X, Generation der Babyboomer genannt, davon
merkten und wussten wir damals nichts und wollen auch heute nichts
davon wissen. Wir verlangten Chancengleichheit, das Ende des
Vietnamkriegs und den Stopp der atomaren Aufrüstung.
In
den 1980er wurde ich erwachsen, zwanzig Jahre alt, Militärdienst,
feste Freundin, kurze Haare, anständige Arbeit. Modernes Auto, erste
Wohnung, die wilden Jahre waren vorbei. Die Mode änderte sich,
getanzt wurde zu Depeche Mode, das Make-up schrill, das Leben kurios.
Eingezwängt in ein Leben ohne Probleme, mit viel Geld, Pizzas bitte
ohne die eine Olive und kontrollierte Freiheit. Vom Hippie zum
Einheitsbürger, das kann und darf ja nicht sein. Der Ausweg führte
über die Musik von David Bowie, Fleedwood Mac, Bryan Ferry und don't
stop the dance. Die Haare wurden wieder länger, die Kleidung in den
Tönen schwarz und weiss und die Freunde änderten sich und somit
auch das private Leben, weg vom Haus, von der Sicherheit und vom
Zwang, rein ins Abenteuer. Spanien, Andalusien, Granada.
Somit
weitete sich auch der persönliche Blick auf eine neue Kultur auf
eine Vergangenheit voller orientalischer Reize, Musik und Literatur
in noch fremder Sprache mit Schriftstellern und Musiker nicht nur aus
Spanien, sondern auch aus Lateinamerika. Es galt nicht nur die
Literatur postfranco und der Transition zu lesen und zu verstehen,
sondern auch die Generation 68 bis hin zur Literatur während des
spanischen Bürgerkrieges. Fasziniert war ich von der immer noch
präsenten andalusisch-maurischen Vergangenheit. Als junger Mensch
und interessiert an Geschichte, Sprache, Literatur und Musik bekomme
ich so viel Nahrung vorgelegt, dass ich intellektuell fast platze.
Von Spanien wusste ich bis zu meinem Besuch nichts und ich durfte
lernen, spüren und erfahren. Etwas, was nicht in ein paar Semester
zu erreichen war, nein, es dauerte knapp 20 Jahre.
Die
zweite Hälfte der 1980er Jahren waren somit die reinste Fiesta, ein
freies Leben und das Jahrzehnt fand den krönenden Abschuss mit der
Geburt meiner Tochter.