Fahrt nach Tlemcen
Heute
Vormittag bin ich nochmals auf neuen Wegen durch Oran spaziert. Mir
ist bereits gestern aufgefallen, dass sich hier auch die einzelnen
modernen Geschäfte auf feste Strassenabschnitte reduzieren, oder,
wie bereits berichtet, die Ersatzteilhändler für Fahrzeuge auf ein
ganzes Viertel. Heute spazierte ich zuerst durch die Strasse der
Mobiltelefon Verkäufer. Ein Laden reihte sich an den andern mit
allen uns bekannten Marken, ausser Appel. Weiter ging es entlang der
Strasse für Baubedarf, durch einen riesigen Markt mit
Kleidergeschäften und fliegenden Händlern, alle mit
Markenimitationen. In einer anderen Strasse konnte Stoff am Meter in
allen möglichen und unmöglichen Farben gekauft werden, was wieder
dazu führt, dass es im Verhältnis sehr viele Fachgeschäfte und
Reparaturwerkstätten für Nähmaschinen gibt. Früher wurde bei uns
ja auch noch viel selber genäht, so wie Rieke
Busch
in "Ein Mann will nach oben".
Diese
strikte Gliederung der einzelnen Geschäftsbezirke stammt aus der
Tradition der hiesigen Wochenmärkte, wo auch jedes Gremium seit
Jahrhunderten seinen eigenen Platz hat und so gegliedert sind.
Die
Fahrkarte für die rund 3-stündige Fahrt nach Tlemcen in 1. Klasse
hat den stolzen Preis von 1 Euro 30! Die Abfahrt ist auf die Minute,
die Ankunftszeit kann niemand genau sagen. Der Schaffner meinte wohl
so um die 35-Minuten Verspätung, wie immer. Am Schluss waren es
knapp eine Stunde. Aber das ist ja nur Nebensache, wichtig ist, wir
kommen an, inshallah. Der Zug, bestehend aus 3 Wagen der zweiten
Klasse und einem der ersten Klasse war voll. Bis zum ersten Halt
mussten Mitreisende sogar stehen. Ich war der einzige Ausländer und
somit Tourist auf dem Zug. Ich fand einen freien Platz an einem
Vierertisch. Ich wurde von meinen männlichen Mitreisenden herzlich
begrüsst und Willkommen geheissen.
Die mitreisenden Frauen, ob jung
oder alt, lächeln mir zu. Die üblichen Fragen nach dem woher und
wohin lassen nicht lange auf sich warten. Rings um mich wird dabei
zugehört und untereinander flüsternd kommentiert. "Wie gefällt
es Ihnen in Algerien?", die Frage, welche später oder früher
immer gestellt wird. Die ersten Mitreisenden mischen sich ins
Gespräch mit meinem Sitznachbarn ein. Zuerst wird noch auf
Französisch gesprochen, später dann nur noch auf Arabisch
diskutiert. Mich haben sie vergessen. Ich war aber sicher der Grund,
dass es zu den lebhaften Diskussionen kam und jeder seinen Standpunkt
über seine Heimat verteidigte.
Hinter mir sitzen eine Mutter mit
ihrer Tochter. Sicher haben sie alles genau mitgehört und
mitverfolgt, was ich erzählte und was über und durch mich
diskutiert wurde. Kreuzten sich unsere Blicke, wurde freundlich
gelächelt. Mit jeder Haltestelle leert sich der Wagen mehr. Die
Mutter hinter mir möchte gerne wissen, in welchem Hotel ich in
Tlemcen absteigen werde. Dass ich noch nichts reserviert hätte,
erstaunt sie und fängt mit ihrer Tochter zu nuscheln an. Die Tochter
hätte eine Ausbildung als Rezeptionistin absolviert, sei aber
zurzeit arbeitslos, erklärt mir die Mutter. Die Tochter greift
umgehend zu ihrem Telefon und so wie ich verstehe, ruft sie
verschiedene ihr bekannte Unterkünfte an und fragt nach Preisen und
Verfügbarkeit. Dies ohne mich etwas zu fragen. Nach ein paar
Gesprächen verkündigt sie zufrieden, sie hätte für mich ein
Zimmer in einem kleinen familiären Hotel in der Stadtmitte
reserviert.
Tlemcen liegt auf 800 Meter und die letzten Minuten der Bahnfahrt führen nach einer fruchtbaren Ebene mit roter Erde durch Tunnels und Brücken über die Schluchten von El-Ourit bis zu meinem nächsten Reiseziel. Kalter Wind empfängt mich auf dem Bahnsteig. Ein Taxi fährt mich bis zum Eingang einer Verkaufsstrasse, vollgestopft mit fliegenden Händlern. Kein Durchkommen für ein Fahrzeug. Ich werde von einem Mitarbeiter der Unterkunft abgeholt. Wir weichen den Ständen und den Kauflustigen aus. In den angrenzenden Läden wird Schmuck, Kleider und Haushaltsgegenstände verkauft. Ein Markt, so wie ich ihn liebe!
Tlemcen
liegt im Tellatlas und war einst eine wirkliche Hauptstadt. Es gibt
den grossen Platz Khemisti Mohamed vor der Moschee Sidi Bel
Hassan. Einen zweiten grossen ,
den Platz Emir Abdel Kader.
Allah
hatte von Anfang an grosses vor mit Tlemcen. Vom zwölften
Jahrhundert an war es, einmal für länger, dann wieder für kürzere
Perioden, die wirkliche Hauptstadt des Maghreb. In enger Verbindung
mit dem maurischen Spanien entwickelte sich Tlemcen zu einer Stätte
arabisch-maurisch-berberischer Hochkultur. Baumeister aus Andalusien
errichteten die meisten der heute noch bestehenden sechsunddreissig
Moscheen und die Paläste der Herrscher. Es wuchs allmählich ein
einheimischer Mittelstand von Kunsthandwerkern und Beamten heran, wie
er in keiner anderen algerischen Stadt zu finden war und wie er sich
teilweise noch bis zum heutigen Tag erhalten hat. Auch die später
aus Spanien vertriebenen Muselmanen bevorzugten das blühende
Tlemcen, die Gebirgsstadt mit dem ausgeglichenen Klima, in der sich
die Handelsstrassen von Fez nach Tunis und von der Küste in die
Sahara kreuzten.
Tlemcen zählte zu seiner Blütezeit mehr als
130'000 Einwohner. Jede der Gruppen sprach ihr Dialekte und Sprachen,
jede Gruppe hatte andere Sitten und Wohnbezirke. Noch heute wohnen
die Hadars, die
stolzen Nachkommen der aus Andalusein nach Nordafrika vertriebenen
Mauren im Osten von Tlemcen und blicken mit Verachtung auf die im
Westen hausenden "Rasse der Knechte", die Nachkommen türkischer
Beamter und zugezogener Landbewohner herab. Lange Zeit waren die
Koulouglis die
Freunde der Franzosen gewesen und hatten von 1834 bis 1836 sogar auf
französischer Seite gegen Abdel Kader gekämpft. Dies wahrscheinlich
nur deshalb, weil die Hadars Gegner der Franzosen waren. Im Maghreb
ist der Feind meines Feindes mein Freund.
Die
Gruppe der Schwarzen ist in Tlemcen im Verhältnis zur
Gesamtbevölkerung grösser als in Algier oder in den Städten des
Mitidja. Sie sind Nachkommen von Sklaven. Vom arabischen
Sklavenhandel ist uns wenig bekannt, aber wo man Araber findet,
trifft man auf Schwarze. In Afrika war die Sklaverei die natürlichste
Sache der Welt. Wer bei einer Stammesfehde oder in einem Krieg in
Gefangenschaft geriet, wurde Sklave.