Dostojewskij
Der
russische Schriftsteller Fjodor Michailowitsch Dostojewski wurde am
11. November 1821 geboren und starb am 9. Februar 1881. Mit seinen
grossen Romanen hinterliess Dostojewskij ein Werk, das zu den
grössten Leistungen der Weltliteratur zählt. Dennoch taten sich die
Sowjetunion und die marxistische Literaturkritik seinerzeit stets
schwer mit seinem Werk. Einmal gelobt, wurde er bald wieder vehement
bekämpft.
Dostojewski
gehört zu den Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, die auch mehr
als 200 Jahre nach ihrer Geburt noch aktuell sind. Seine Romane
faszinieren bis heute durch ihre psychologische und philosophische
Problematik, die spannende Handlung und die tragischen Schicksale der
hassliebenden Helden der einzelnen Romane. Schwierig für den
deutschsprachigen Leser sind oft die russischen Namen der
Protagonisten, die einmal mit dem Kosenamen, dann mit dem Titel und
schliesslich mit dem vollständigen Vor- und Nachnamen genannt
werden. Hier gilt es für den noch ungeübten Leser, sich eine Liste
anzulegen, um im Namenswirrwarr nicht unterzugehen.
Thomas
Mann nannte Dostojewski den Dante des Ostens. Für Friedrich
Nietzsche war er der einzige Psychologe, von dem er etwas lernen
konnte. Die russischen Symbolisten entdeckten Dostojewskij um die
Jahrhundertwende als Mystiker und sogar als Propheten. Nach der
Oktoberrevolution 1848 erfasste eine Welle der Dostojewskij
Begeisterung sowohl den Westen als auch den Osten.
Eine
Renaissance gab es auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als Dostojewskijs
Romane wieder in Massenauflagen verkauft wurden. Die sowjetische
marxistische Literaturkritik setzte sich erneut mit Dostojewskijs
Welt- und Lebensanschauung auseinander. Doch wie damals und heute
konnte man sich über die politischen, sozialen, psychologischen,
philosophischen und religiösen Ansichten des Autors nicht einigen.
Dostojewskij
lernte schon als Kind menschliches Leid kennen. Sein Vater war Arzt
im staatlichen Krankenhaus eines Moskauer Armenviertels. Als er 15
Jahre alt war, starb seine Mutter, zwei Jahre später wurde sein
Vater auf einem Landgut von Leibeigenen erschlagen. Dostojewskij
versuchte sich zunächst in der Armee, was ihn jedoch bald
desillusionierte. Nach dem Militärdienst, gerade 23 Jahre alt
geworden, liess er sich pensionieren, um sich ganz seiner
schriftstellerischen Tätigkeit zu widmen. Dieser Entschluss erwies
sich jedoch als wirtschaftlich schwierig und er lebte in Armut. Daran
sollte sich für den Proletarier unter den Literaten zeitlebens
nichts ändern. Sein kurzer Roman Arme Leute, der im Januar 1846
erschien, wurde zwar ein Erfolg, aber schon sein zweites Werk, der
Doppelgänger, stiess auf allgemeine Ablehnung.
Seine
Unzufriedenheit mit den sozialen und politischen Verhältnissen in
Russland brachte ihn in die Nähe revolutionärer Kreise. Deren Ziele
waren vor allem die Abschaffung der Leibeigenschaft und die
Pressefreiheit. Im April 1849 wurde Dostojewski wegen
staatsfeindlicher Aktivitäten verhaftet. Nach langer
Untersuchungshaft wurde er zusammen mit anderen Angeklagten zum Tode
verurteilt. Erst im letzten Moment, kurz vor dem Erschiessungsbefehl,
wurden die Verurteilten vom Zaren begnadigt und statt zum Tode nach
Sibirien deportiert.
In der Strafkolonie von Omsk litt Dostojewskij vier Jahre lang unter Kälte, Schmutz, mangelhafter Ernährung sowie der Willkür der Kommandanten und der Grausamkeit der Gefangenen. In Sibirien erlitt er auch die ersten epileptischen Anfälle, die ihn sein Leben lang begleiten sollten. Nach seiner Entlassung musste er noch vier Jahre als einfacher Soldat an der mongolischen Grenze dienen. Dort lernte er auch seine spätere Frau kennen, eine hübsche, aber hysterische und kränkliche Frau. Die äusserst unglückliche Ehe lastete schwer auf ihm. In dieser Zeit schrieb er Onkelchens Traum und Dorf Stepantschikowo, beide ohne finanziellen Erfolg. Ende 1859 erhielt er endlich die Erlaubnis, in den westlichen Teil Russlands zurückzukehren, nach St. Petersburg. Verständlicherweise änderte sich Dostojewskijs Weltanschauung radikal. Er wandte sich von den sozialistisch-atheistischen Idealen ab und begann ein neues Verhältnis zum Volk und zum Christentum. In St. Petersburg herrschte zu dieser Zeit eine entspannte, fast liberale Atmosphäre. Der verlorene Krimkrieg und der Tod des ultrareaktionären Zaren Nikolaus I. machten den Weg frei für Reformen. Dostojewskijs alter Traum von der Abschaffung der Leibeigenschaft ging in Erfüllung. Zensur und Publikationsvorschriften wurden gelockert. Dostojewskijs Bruder Michail erwarb die Rechte zur Herausgabe der Zeitschrift Vremja, die Zeit. Die Monatszeitschrift fand ein grosses Publikum, und Fjodor Dostojewskij konnte seine Romane Erniedrigt und Beleidigt und Aufzeichnung aus einem Totenhaus veröffentlichen, in denen er mit seinen Jahren in den Strafkolonien abrechnete. Der finanzielle Erfolg ermöglichte ihm seine erste Europareise. Wegen eines politischen Artikels während des polnischen Aufstandes 1863 wurde die Wremja verboten, was für beide Brüder den wirtschaftlichen Zusammenbruch bedeutete. Dostojewski reiste erneut mit einer extravaganten Frau ins Ausland und entdeckte eine gefährliche Liebe zum Roulette. Seelisch und finanziell ruiniert kehrte er nach einigen Monaten zurück. In der Zwischenzeit gelang es seinem Bruder, eine neue Zeitschrift, Epocha, herauszugeben, die jedoch nach einem Jahr wieder eingestellt werden musste. Seine Frau starb an Schwindsucht, sein Bruder bald darauf. Von den Gläubigern der Epocha verfolgt, floh er erneut ins Ausland. In dieser bewegten Zeit schrieb er den Roman Schuld und Sühne. Zurück in St. Petersburg nahm er das Darlehen eines Verlegers an, um einen neuen Roman zu vollenden. Unter Zeitdruck schrieb er den Roman Der Spieler.
Dostojewski heiratete die 25 Jahre jüngere Anna Grigorjewna Snitkina, eine praktische, tüchtige und mutige Frau. Sie half ihm nicht nur bei der Arbeit, sondern schützte ihn auch vor Verwandten und Gläubigern. Sie begann sogar, Dostojewskijs Werke selbst zu verlegen, und ihr ist es zu verdanken, dass Dostojewskij zumindest seine letzten Lebensjahre ohne grössere wirtschaftliche Probleme verbringen konnte. Nach einem Blutsturz starb Fjodor Michailowitsch Dostojewskij am 9. Februar 1881, und sein Begräbnis wurde zu einem triumphalen Erfolg. Über 80'000 Menschen begleiteten ihn auf seinem letzten Weg.
Dostojewskis berühmter Roman Der Idiot erzählt die Geschichte eines russischen Don Quijote. Der naive und gutherzige Fürst Myschkin hält der Gesellschaft einen Spiegel vor und geht an ihren Intrigen zugrunde. Mit dem Fürsten Myschkin präsentiert Dostojewski einen im christlichen Sinne guten, aber auch tragischen Helden. Myschkin erinnert in seiner grenzenlosen Naivität und Vertrauensseligkeit an Don Quijote. Er ist eine Gegenfigur zu den arroganten, skrupellosen Menschen der Petersburger Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts. Der Fürst steht für den Verfall von Tugend und Moral in einer Zeit, in der in Russland das wohlhabende Bürgertum und der grundbesitzende Adel um ihre wirtschaftlichen Privilegien kämpfen. Dostojewski macht Myschkin indirekt zum Opfer dieser gesellschaftlichen Umwälzungen. Er scheitert an seiner Unfähigkeit, die Menschen richtig einzuschätzen, die ihre Lebensbeziehungen zunehmend dem Prinzip der Käuflichkeit und des Kommerzes unterordnen. Die psychologische Tiefenschärfe, die der Autor in diesem Roman erreicht, ist in der damaligen Romanliteratur einzigartig und hat dazu beigetragen, dass er heute zu den zehn meistzitierten Namen der Weltliteratur zählt.
"Die jungen Mädchen standen in der Sommerfrische gewöhnlich gegen neun Uhr auf; nur Aglaja hatte es sich in den letzten zwei, drei Tagen angewöhnt, etwas früher aufzustehen und im Garten spazieren zugehen, aber nicht um sieben Uhr, sondern um acht oder noch später. Lisaweta Prokofjewna, die in der Nacht wirklich vor allerlei Sorgen nicht geschlafen hatte, war gegen acht Uhr aufgestanden in der Absicht, Aglaja im Garten aufzusuchen, da sie annahm, daß diese bereits auf sei, hatte sie aber weder im Garten noch in ihrem Schlafzimmer gefunden. Da war sie unruhig geworden und hatte ihre Töchter geweckt. Von dem Dienstmädchen hatte sie dann erfahren, Aglaja Iwanowna sei schon vor sieben Uhr in den Park gegangen. Die jungen Mädchen hatten über die neue Laune ihres romantisch veranlagten Schwesterchens gelächelt und der Mama bemerkt, Aglaja werde es am Ende noch übelnehmen, wenn diese in den Park ginge, um sie zu suchen; sie sitze jetzt gewiss mit einem Buch auf der grünen Bank, von der sie noch vor drei Tagen gesprochen und um derentwillen sie sich beinah mit dem Fürsten Schtsch. gezankt habe, weil dieser an der Lage der Bank nichts Besonderes habe finden können. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten und Aglaja beim Rendezvous angetroffen und die sonderbaren Worte der letzteren gehört hatte, war sie aus vielen Ursachen sehr erschrocken gewesen, aber als sie nun den Fürsten mit nach Hause genommen hatte, tat es ihr in einer Anwandlung von Feigheit leid, dass sie die Sache angefangen hatte; was war schon dabei, wenn Aglaja sich mit dem Fürsten im Park traf und sich mit ihm unterhielt, selbst wenn es ein vorher verabredetes Rendezvous war?"