Albert Camus
Wie
soll ich einen Menschen verstehen, der fünf Jahre vor meinem Vater
auf die Welt kam und noch vor meiner Geburt durch einen tragischen
Autounfall starb?
Wie
soll ich meiner besten Freundin erklären, dass sie ihre Koffern
packen soll und verschwindet in das Land ihrer Träume unter die
Sonne des ewigen Sommers und nicht leidet unter dem Nebel dieses
Landes?Wie
soll ich verstehen, wie soll ich erklären, wenn ich nicht einmal
mich mir selber erklären kann.
Aber
ich arbeite daran. Ich arbeite an mir und somit werde ich eines Tages
vielleicht Albert Camus verstehen und vielleicht eines Tages anderen
Menschen Ratschläge erteilen dürfen.
Bei
einem Toten ist es vielleicht am einfachsten, ihn zu verstehen zu
versuchen, denn er ist nicht mehr. Keine neuen Gefühle, keine
unerwarteten Emotionen, keine Art von Überraschungen.
Es gilt seine Bücher zu lesen, seine Biografien zu studieren, eine
Reise durch seine damalige Heimat zu unternehmen, die Orte zu
besuchen, die in seinen Büchern beschrieben sind, auch wenn nach 100
Jahren kein Stein mehr so liegt, wie er ihn wohl gesehen hat.
Es
gibt auch keine Zeitzeugen mehr. Stumme Überreste
von Mauern, Häuser an Strassen, deren Namen sich in den Jahren und
mit den Regierungen geändert haben. Strände, die nun Teil des
Hafens sind. Parks, die Häuserblocks weichen mussten. Bars und
Restaurants mit anderen Namen, mit anderen Wirten, mit anderen
Speisen. Mit anderen Gästen, mit moderner Musik. Ja, nicht einmal
der Wein ist der gleiche!
Albert
Camus wurde in Algerien in der französischen Kolonie als pied noir
geboren. Das heutige Algerien war damals Teil Frankreichs und während
der Belagerung von Paris war Alger zeitweise auch die Hauptstadt des
freien Frankreichs. Geboren in einer armen Familie in einem armen
Umfeld. Den Vater hat der nie gekannt. Im 1. Weltkrieg wurde er
eingezogen und starb im Kampf. Albert war somit bereits als
Einjähriger Halbwaise und lebte mit Mutter, Grossmutter und älterem
Bruder in einem Viertel etwas ausserhalb der Weissen Stadt am Meer.
Ärmliche
Franzosen in einem noch ärmlichen arabischen Land. Die Kinder von
damals hatten genug mit ihrer eigenen Armut zu kämpfen und fühlten
sich als dort geborene auch als Einheimische. Die pied noir waren
unter sich in ihrem Viertel, die Spanier, Italiener in den ihren und
die Araber, wie Camus die eigentliche Urbevölkerung nannte, in dem
ihren. Viele Jahre wurde Albert Camus vorgeworfen, dass er die
Algerier in seinen Büchern einfach nur die Araber nannte. Erst in
der letzten Zeit hat auch das Kulturministerium in Alger gemerkt,
dass Camus ein Teil der Geschichte, der Literatur mit Nobelpreis, des
Landes ist. Als junger Journalist setzte er sich für die kolonial
unterdrückten Araber und Berber ein. Er und seine Freunde und
Familie wussten während ihrer Jugend von keinem Leben ausserhalb von
Alger. Sie fühlten sich gleich wie alle Menschen, die in den
europäischen geprägten Viertel wohnten und gleich wie die Menschen
in der Kasbah. Jeder hatte zu kämpfen und musste sich unterwerfen.
Somit war der Unterschied nur von der Herkunft abzulesen, pied noir,
Araber, Spanier. Alle waren Feinde, wenn es um ein paar Sous ging,
alle waren Freunde, wenn eine Tüte Pommes geteilt werden konnte.
Ein
Leben in der Fremde, die gleichzeitig die Heimat war. Ein Leben in
der Heimat, die gleichzeitig fremd erschien.
Im
November 2023 wird es 110 Jahre her sein, dass er geboren wurde. Im
Januar 2023 sind es bereits
63 Jahre seit seinem Tod. Dazwischen
liegen Armut unter der Sonne Algeriens. Das Verlangen zu lernen, zu
lesen, zu schreiben, Glück wohlwollender Lehrer zu haben, denn zu
Hause konnte keiner lesen noch schreiben. Arbeit als Journalist, dann
in Paris im Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Protest gegen
stalinistischen Terror. Camus ein unbestechlicher Kämpfer für
gerechte und menschenwürdige Lebensbedingungen. Krisen und Ängste
musste er überstehen, sich sowohl privat als auch politisch
überwerfen. Sich gegen Freunde wie Jean Paul Satre durchsetzen und sieben
Jahre vor ihm den Nobelpreis zu erhalten. Es gibt aber auch einen
leidenschaftlichen Camus der sich treu blieb. Der Fremde, Die Pest,
Der erste Mensch, alle auch erschienen als Taschenbücher im
rororo-Verlag sind Bestseller, die es sich aber auch heute zu lesen
lohnt.