Albert Camus

28.12.2022

Wie soll ich einen Menschen verstehen, der fünf Jahre vor meinem Vater auf die Welt kam und noch vor meiner Geburt durch einen tragischen Autounfall starb?
Wie soll ich meiner besten Freundin erklären, dass sie ihre Koffern packen soll und verschwindet in das Land ihrer Träume unter die Sonne des ewigen Sommers und nicht leidet unter dem Nebel dieses Landes?Wie soll ich verstehen, wie soll ich erklären, wenn ich nicht einmal mich mir selber erklären kann.
Aber ich arbeite daran. Ich arbeite an mir und somit werde ich eines Tages vielleicht Albert Camus verstehen und vielleicht eines Tages anderen Menschen Ratschläge erteilen dürfen.

Bei einem Toten ist es vielleicht am einfachsten, ihn zu verstehen zu versuchen, denn er ist nicht mehr. Keine neuen Gefühle, keine unerwarteten Emotionen, keine Art von Überraschungen. Es gilt seine Bücher zu lesen, seine Biografien zu studieren, eine Reise durch seine damalige Heimat zu unternehmen, die Orte zu besuchen, die in seinen Büchern beschrieben sind, auch wenn nach 100 Jahren kein Stein mehr so liegt, wie er ihn wohl gesehen hat.
Es gibt auch keine Zeitzeugen mehr. Stumme Überreste von Mauern, Häuser an Strassen, deren Namen sich in den Jahren und mit den Regierungen geändert haben. Strände, die nun Teil des Hafens sind. Parks, die Häuserblocks weichen mussten. Bars und Restaurants mit anderen Namen, mit anderen Wirten, mit anderen Speisen. Mit anderen Gästen, mit moderner Musik. Ja, nicht einmal der Wein ist der gleiche!

Albert Camus wurde in Algerien in der französischen Kolonie als pied noir geboren. Das heutige Algerien war damals Teil Frankreichs und während der Belagerung von Paris war Alger zeitweise auch die Hauptstadt des freien Frankreichs. Geboren in einer armen Familie in einem armen Umfeld. Den Vater hat der nie gekannt. Im 1. Weltkrieg wurde er eingezogen und starb im Kampf. Albert war somit bereits als Einjähriger Halbwaise und lebte mit Mutter, Grossmutter und älterem Bruder in einem Viertel etwas ausserhalb der Weissen Stadt am Meer. Ärmliche Franzosen in einem noch ärmlichen arabischen Land. Die Kinder von damals hatten genug mit ihrer eigenen Armut zu kämpfen und fühlten sich als dort geborene auch als Einheimische. Die pied noir waren unter sich in ihrem Viertel, die Spanier, Italiener in den ihren und die Araber, wie Camus die eigentliche Urbevölkerung nannte, in dem ihren. Viele Jahre wurde Albert Camus vorgeworfen, dass er die Algerier in seinen Büchern einfach nur die Araber nannte. Erst in der letzten Zeit hat auch das Kulturministerium in Alger gemerkt, dass Camus ein Teil der Geschichte, der Literatur mit Nobelpreis, des Landes ist. Als junger Journalist setzte er sich für die kolonial unterdrückten Araber und Berber ein. Er und seine Freunde und Familie wussten während ihrer Jugend von keinem Leben ausserhalb von Alger. Sie fühlten sich gleich wie alle Menschen, die in den europäischen geprägten Viertel wohnten und gleich wie die Menschen in der Kasbah. Jeder hatte zu kämpfen und musste sich unterwerfen. Somit war der Unterschied nur von der Herkunft abzulesen, pied noir, Araber, Spanier. Alle waren Feinde, wenn es um ein paar Sous ging, alle waren Freunde, wenn eine Tüte Pommes geteilt werden konnte.
Ein Leben in der Fremde, die gleichzeitig die Heimat war. Ein Leben in der Heimat, die gleichzeitig fremd erschien.

Im November 2023 wird es 110 Jahre her sein, dass er geboren wurde. Im Januar 2023 sind es bereits
63 Jahre seit seinem Tod. Dazwischen liegen Armut unter der Sonne Algeriens. Das Verlangen zu lernen, zu lesen, zu schreiben, Glück wohlwollender Lehrer zu haben, denn zu Hause konnte keiner lesen noch schreiben. Arbeit als Journalist, dann in Paris im Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Protest gegen stalinistischen Terror. Camus ein unbestechlicher Kämpfer für gerechte und menschenwürdige Lebensbedingungen. Krisen und Ängste musste er überstehen, sich sowohl privat als auch politisch überwerfen. Sich gegen Freunde wie Jean Paul Satre durchsetzen und sieben Jahre vor ihm den Nobelpreis zu erhalten. Es gibt aber auch einen leidenschaftlichen Camus der sich treu blieb. Der Fremde, Die Pest, Der erste Mensch, alle auch erschienen als Taschenbücher im rororo-Verlag sind Bestseller, die es sich aber auch heute zu lesen lohnt.